Bachs "Markus-Passion" in der Martinskirche
Unter der Leitung von Andreas Frese, der zugleich mit seiner Tenorstimme den Part des Evangelisten sang, musizierten am 22. März der Kämmerchenchor der Diezer evangelischen Kirchengemeinden und die Capella Logana auf Originalinstrumenten zusammen mit Marie Hänsel (Sopran), Melinda Paulsen (Mezzosopran) und Niklaus Fluck (Bass) die Markus-Passion von Johann Sebastian Bach in der Emser Martinskirche. Bei über fünfzig Mitwirkenden war das Publikum - leider - in der Minderheit. Der stehende Applaus am Ende der Aufführung zeigte jedoch, dass sich das Kommen gelohnt hatte.
Das lag nicht nur an der Leistung der Solistinnen und Solisten sowie der beiden Klangkörper und des Dirigenten, der in seiner Doppelrolle als Konzertmeister und singender Evangelist mit höchster Konzentration gefordert war. Auch das Werk selbst beeindruckte, weil es in der Erzählung der Geschehnisse um die Kreuzigung Jesu schnell und geradeaus voranschreitet und sogar die betrachtenden und reflektierenden Elemente zum Beispiel in den Arien und Chorälen konzentriert, klar und keineswegs musikalisch übertrieben ausgeführt sind. Sehr hilfreich ergänzt wurde die Musik durch ein vollständiges Textheft, das es den Zuhörerinnen und Zuhörern erleichterte, dem Gang des Geschehens zu folgen und die Texte aufzunehmen. Die auf diese Weise dokumentierte Anlage des Werkes bildete gemeinsam mit dem Können der Ausführenden ein pädagogisches Gesamtkunstwerk, das dem Publikum das Leiden und Sterben Jesu mitsamt einer in Umfang und Präzision wohldosierten protestantischen Deutung nahebringen konnte.
Überliefert ist leider nur das Libretto der Markus-Passion, während die Partitur verloren ist und die Musik rekonstruiert werden muss. Erleichtert wird das ein wenig, weil man weiß, dass Bach für seine Markus-Passion zahlreiche musikalische Stücke recycelt oder später wieder aufgegriffen hat. Man mag zu einer Komposition unter Verwendung von Elementen „aus dem Regal“ durchaus kritisch stehen, den originalen Texten und dem vertrauten Bach-Sound tut das aber gewiss keinen Abbruch.
In einem Punkt jedoch war der Rezensent irritiert. Weder von den Ausführenden noch von der „Konfektionsware“ als solcher, vielmehr von den musikalischen Elementen, in denen der Chor nicht die geistlich vertiefende Betrachtung übernimmt, sondern die Stimme des Volkes wiedergibt. Die Menge fordert von Jesus zum Beispiel: „Weissage uns!“ oder von Pilatus: „Kreuzige ihn!“ Diese inhaltlich bizarren und im Grunde empörenden Coro-Elemente sind musikalisch so harmonisch-gefällig mehrstimmig durchkomponiert, dass einem das Blut in den Adern gefrieren kann: Wenn sich menschliche Grausamkeit so schmissig und schön und geradezu mitreißend in Szene setzt, zeigt sich darin - zumindest für heutige Ohren - der Gipfel eines völlig in die Irre geleiteten Populismus. Damit ist eine Brücke in die politische Gegenwart geschlagen: Was richtig gut und eingängig klingt, kann in Wirklichkeit brandgefährlich sein.
Wilfried Steller