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Der Ablauf eines regulären Sonntagmorgen-Gottesdienstes

Liturgie erleichtert die Begegnung mit Gott

Der Sonntagsgottesdienst folgt einem mehr oder weniger starren Ablauf, der auf viele wenig lebendig wirkt. Die Begegnung mit Gott in der Öffentlichkeit ist jedoch nicht so einfach wie die Umarmung einer Freundin, weil der Abstand zwischen ihm und uns unvorstellbar groß ist. Dennoch gibt es viele Variationsmöglichkeiten.

1. Begegnung hat Rituale

Im Alltag haben wir viele kleine persönliche Begrüßungsrituale. Mit einem “Hallo!”, Handschlag, Umarmung und einer gewissen Anzahl von Küsschen meistern wir viele Begegnungen. Meist wissen wir instinktiv, was gerade angemessen ist. Im Geschäftsleben ist Etikette besonders wichtig. Oft hängt der Erfolg einer Begegnung von Signalen ab, die schon bei der Begrüßung ausgetauscht werden. Erst recht sensibel geht es zum Beispiel bei einem Staatsempfang zu, erst recht, wenn heikle Themen anstehen. Damit nichts schiefgeht, wird jeder Schritt und jede Geste vorher vom Protokoll festgelegt. Augenhöhe ist dabei wichtig.

2. Gottesdienst - eine Begegnung zwischen ungleichen Partnern

Wenn sich im Gottesdienst Gemeinde und Gott begegnen, ist das noch wesentlich komplizierter, denn dabei muss deutlich werden, dass man gerade nicht auf Augenhöhe zusammenkommt. Gott ist unser allmächtiger und vollkommener Schöpfer, besitzt ein völlig anderes Wesen als wir, ist ein absolut überlegenes Gegenüber. Wir dagegen sind Geschöpfe, ohnmächtig, alles andere als vollkommen. Der Erhabene trifft also auf die Allergeringsten, der Reine auf die Unreinen, die vor ihrem Gegenüber eigentlich gar nicht bestehen können. Falsche Töne wären bei diesem Zusammentreffen fatal. Die Begegnung bricht, sobald die Menschen mehr sein wollen, als sie tatsächlich sind, und sobald sie ihr Gegenüber kleiner machen, als es tatsächlich ist. Möglich ist diese Begegnung überhaupt nur, weil Gott sie will und zulässt. Er ist also und bleibt auch der Souverän, und jede Annäherung von unserer Seite will sorgfältig bedacht sein.

Damit dies unter keinen Umständen schiefgeht, gibt es die Liturgie, eine Art Protokoll für die ertragreiche Begegnung zwischen der Gemeinde und Gott. Sie kann sehr verschiedene Ausprägungen haben, sieht aber in jedem Fall eine achtsame Annäherung vor, in der eines konstitutiv ist: Der Gott begegnende Mensch muss seine eigene Hinfälligkeit und Sündhaftigkeit bekennen, sein Angewiesensein auf Gott, und zugleich die absolute Souveränität und Andersartigkeit Gottes anerkennen. Den tatsächlichen Größen- und Machtverhältnissen muss also unter allen Umständen Rechnung getragen werden.

Der Liturg oder die Liturgin - in der Regel Pfarrer oder Pfarrerin - nimmt hier eine Mittlerposition ein, die darauf achtet, dass der Mensch sich nicht selbst überhebt, vielmehr allein Gott die Ehre gibt. Im Gottesdienst sprechen Liturgen für die Gemeinde, aber auch - nach bestem Wissen und Gewissen - für Gott. Ihre Erfahrung schöpfen sie aus der Heiligen Schrift, in der Gott sein Wesen und seinen Willen offenbart hat. Sie stellt auf diese Weise sowohl die Basis wie auch den Horizont der Begegnung dar und spielt die Hauptrolle im Gottesdienst, in dem Gottes Dienst für die Menschen ebenso zur Sprache kommt wie der Dienst der Menschen an Gott. Ihre Legitimation wird den Liturgen und Liturginnen von ihrer kirchlichen Gemeinschaft zugesprochen, nachdem sie öffentlich dargelegt haben, dass sie ganz auf dem Boden der Heiligen Schrift stehen.

Die Gemeinde versteht sich in dieser Liturgie des Gottesdienstes selbstredend nicht als neutrale Besucherschaft, die eine Art Beobachterstatus einnehmen und innerlich außen vor bleiben kann, sondern als Teilnehmerschaft. Sie ist also aktiv in der Begegnung engagiert und bekundet dies hörbar durch Gesang, Glaubensbekenntnis, Gebet sowie den Bestätigungen und Bekräftigungen in Gestalt der liturgischen Gesänge. Aktiv ist die Gemeinde dann selbstverständlich auch darin, dass sie sich Gottes Wort und Willen nahegehen lässt und sich aneignet.

3. Die Liturgie des sonntäglichen Gottesdienstes

Unter den liturgischen Formen ist die des sonntäglichen Hauptgottesdienstes die gebräuchlichste und bekannteste. Dieses “Musterprotokoll” beginnt mit dem zum Gottesdienst einladenden Geläut und dem geistigen Ankommen in der Begegnung mit Gott während des musikalischen Vorspiels. Liturg oder Liturgin sprechen und handeln ausdrücklich “im Namen Gottes”. Sie vertreten also im Gottesdienst ausschließlich Ihn, nicht wie ein Richter das “Volk” oder ein Manager seine Firma, schon gar nicht einen Führer oder eine Ideologie. Daher tragen sie als ordinierte Pfarrerinnen und Pfarrer ihrer Kirche auch in der Regel eine Kleidung, die sie als Amtspersonen ausweist.

Danach folgt das komplexe “Begrüßungsritual”: Im Eingangslied besingt die Gemeinde ihren Schöpfer und Erhalter und gewinnt auf diese Weise eine akzentuierte Sicht auf ihn. Im Psalmgebet setzt sich das fort, indem die Größe und Erhabenheit Gottes aufleuchtet und das, was die Gemeinde von ihm erwarten kann. Die Gemeinde stimmt dann ein in das “kleine Gloria”, das üblicherweise die Psalmen der hebräischen Bibel in den christlichen Kontext stellt: “Ehr sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist”. Die Gemeinde realisiert dabei, dass der dreieinige Gott ihr Lebensgrund ist. Sie selbst dagegen ist unvollkommen. Liturg oder Liturgin bringen das stellvertretend für die Gemeinde im Sündenbekenntnis zur Sprache, und die Gemeinde bekräftigt, dass sie auf Vergebung und Versöhnung angewiesen ist, indem sie “Herr, erbarme dich” singt. Liturg oder Liturgin haben dann im Gnadenwort eine frohe Botschaft für die anwesende Gemeinde: Gott vergibt die Schuld und befreit zu einem Leben ohne Angst. Davon ist die Gemeinde sehr angetan und lobt Gott im “großen Gloria” für seine Zuwendung: “Ehre sei Gott in der Höhe”. Damit ist das Verhältnis zwischen Gott und Gemeinde klar, und die Gemeinde ist “eingenordet”.

Im liturgischen Gruß zwischen Liturg oder Liturgin und Gemeinde (“Gott sei mit euch - und mit deinem Geist”) wünschen beide einander Gottes Nähe: Die Gemeinde braucht sie, um im weiteren Gottesdienst Gottes Wort angemessen in sich aufzunehmen, und Liturg oder Liturgin brauchen sie, um Gottes Wort unverfälscht weiterzugeben. Das “Kollektengebet” bringt dann einen Kerngedanken in der Begegnung mit Gott zur Sprache (“Du bist ..., wir sind ... und bitten dich”), und die Gemeinde bekräftigt das mit ihrem “Amen”.

Im Verkündigungsteil des Gottesdienstes stehen korrespondierende Bibeltexte im Mittelpunkt, eine Lesung, auf die hin die Gemeinde das Gotteslob anstimmt (“Halleluja”) und ihren Glauben bezeugt, und nach einem das Thema des Sonntags vertiefenden Gemeindelied den Predigttext mit einer Auslegung, die den Bibeltext und die Lebenswelt miteinander ins Gespräch bringt, sowie einem weiteren Lied, das oft einen Predigtgedanken aufnimmt oder die Predigt in einen größeren gedanklichen Kontext stellt.

Es folgen die Fürbitten, auch bekannt als Kirchengebet, und das Vaterunser. Die Gemeinde denkt an die Nahen und Fernen, die Unterstützung, Kraft und Trost nötig haben. Indem sie Gott um seinen Beistand bittet, weiß sie sich auch selbst in der Verantwortung, das Nötige und ihr Mögliche zu tun. Im Vaterunser bündeln sich alle Gebetswünsche. Die Gemeinde ist dabei in einer sehr innigen Weise mit Jesus als dem ursprünglichen Sprecher dieser Worte verbunden, zugleich aber auch mit allen, die diese Worte ebenfalls gesprochen haben und sprechen - über alle konfessionellen und sonstigen Grenzen hinweg. Mit seinem weltweiten Horizont der ungeteilten Kirche Jesu Christi ist das “Gebet des Herrn” in keinem Gottesdienst verzichtbar.

Ein Schlusslied gibt dann einen Impuls für die Woche, und es folgt der Segen, für nicht wenige der wichtigste Teil im Gottesdienst, aus dem sie Kraft für die Herausforderungen des Alltags schöpfen. Im Segen, der vom Liturgen oder der Liturgin als Zuspruch (“Gott segne dich”) oder als Bitte (“Gott segne uns”) gesprochen wird, erweist sich die Begegnung mit Gott als gelungen, als ertragreich und im wahrsten Sinne des Wortes als segensreich für die Gemeinde. Die Botschaft des Sonntags und das gute Gefühl der Geborgenheit in Gott klingen wider im musikalischen Nachspiel. Am Ausgang wird dann eine Kollekte erwartet, ein Akt aktiver Solidarität.

4. Eine einheitliche Liturgie erleichtert den Zugang

Einerseits kann die im Eingangsteil des Gottesdienstes ritualisierte Begegnung trotz ihrer inneren Dramatik langweilig wirken. Andererseits ist es sinnvoll, wenn jeder und jede das Ritual kennt und sich der Ablauf möglichst gut erschließt, damit man sich beteiligen kann. Das geschieht am effektivsten durch ein möglichst verbreitetes Protokoll. Am weitesten hat es hier die katholische Kirche gebracht: Egal, in welchem Land ich mich befinde, läuft die Messe überall gleich ab, und ich weiß sofort, wo ich gerade bin und was von mir erwartet wird. Bei den Protestanten ist das naturgemäß weniger einheitlich geregelt, weil es verschiedene Kirchen und Gemeinden gibt. Ungewohnte Gottesdienstbesucher und -besucherinnen setzen sich daher gerne nach hinten, damit sie besser sehen können, was “die anderen” machen, und wie man sich “richtig” verhält. Als “Hinterbänkler” hat man im Zweifelsfall auch leichter die Chance, sich herauszuziehen, wenn es im Gottesdienst plötzlich zu nah wird, indem man zum Beispiel wildfremde Menschen an die Hand nehmen soll. Was eigentlich der Integration dienen soll, führt dann leider zum Befremden.

Vieles spricht also für übergreifend einheitliche Formen. Die landeskirchlichen Gemeinden sind entsprechend gehalten, sich auf eines der vorgegebenen Formulare zuzubewegen, wenn sie ihre Liturgie verändern wollen, damit eine möglichst breite Wiedererkennbarkeit gegeben ist und die eigene Verortung im Gottesdienst möglichst rasch gelingt. Der Liturg oder die Liturgin hat die Aufgabe, möglichst alle in die gottesdienstliche Gemeinde zu integrieren. In der hessen-nassauischen und der kurhessischen Kirche gibt es im Wesentlichen zwei Grundformen, eine kürzere und eine ausführlichere, die dem Bedürfnis nach Einheitlichkeit Rechnung tragen.

5. Abwechslung erfreut, aber nicht zu oft

Neben der Grundform des Gottesdienstes sind eine ganze Reihe kleinerer Formen im Gebrauch, so etwa für Passionsandachten, Abendandachten oder eine Andacht mit Liedern aus der Gemeinschaft von Taizé. Das alles hindert jedoch nicht, daneben auch weitere Formen zu praktizieren, so lange darin das christliche Menschenbild ebenso wie das Gottesbild reflektiert werden. Die gesungenen Übereinstimmungen und Bekräftigungen, die sogenannten Responsorien, können zum Beispiel durch Texte oder Liedstrophen ersetzt werden, die dasselbe ausdrücken, selbstverständlich auch aus dem neueren Liedgut. Das Protokoll der Begegnung selbst kann je nach Bedarf und Anlass stark verkürzt oder auch wesentlich erweitert werden. Dabei liegt es natürlich nahe, einmal gefundene und bewährte Formen dann auch mit einer gewissen Kontinuität zu praktizieren, damit sich die Gemeinde stets gut einfinden kann. Gedruckte Gottesdienstblätter erleichtern nicht nur Dazugekommenen den Überblick. Im Zweifelsfall kann man die Grundform des Gottesdienstes im Eingangsteil des Gesangbuches nachlesen. Dann kann man sich auch leichten Herzens weiter nach vorne setzen, weil man keine Angst haben muss, etwas “falsch” zu machen.

Wilfried Steller

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