Jahreslosung 2023
„Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Dieser Satz der Hagar hat mich schon immer fasziniert! Nach allem, was diese Frau durchgemacht hat, kommt sie zu der Feststellung, dass Gott sie nicht vergessen hat und ihr sogar ein Ansehen bereitet.
Abraham – nach Gottes Verheißung der Vater eines künftigen großen Volkes, wird allmählich ungeduldig. Seine Frau Sara ist immer noch nicht schwanger. Das ist nicht gut für seine Stellung in der Sippe. Und Sara erst! In der archaischen Gesellschaft braucht es ein Kind – am besten einen Sohn – damit eine Frau nur ein wenig Ansehen erlangt. Sara sieht, wie die anderen Frauen auf sie herabschauen und die Männer sie keines Blickes würdigen.
Sie sucht einen Weg, doch noch zu Ehren zu kommen: Wenn sie ihre Leibmagd zu Abraham schickte, und diese würde schwanger, dann wäre das Kind der Magd - rechtlich gesehen - ihr Kind.
Hagar wird schwanger. Und Sara ebenfalls! Aber sie hat jetzt ein noch größeres Problem. Das Kind der Magd könnte ihrem Kind die Erbfolge streitig machen! Daher macht sie Hagar das Leben so schwer, dass sie wegläuft. Hagar flieht in die Wüste Schur. Dort wird sie vom Engel Gottes gefunden. Es ist ein Wendepunkt im Leben der Hagar, aber auch im Erzählstrang der Bibel: Hagar ist die erste Frau, die Gott durch seinen Boten persönlich anspricht! Sie bleibt Saras Dienerin. Doch vom Engel wahrgenommen und mit ihrem Namen angesprochen, bekommt sie ihre Würde zurück. Bisher hatte sie zu befolgen, was ihre Herrin befahl. Jetzt wird sie gefragt: „Hagar, Saras Magd, wo kommst du her und wo willst du hin?“ Eine alltäglich anmutende Frage wird an dieser Stelle zu einer existentiellen.
„Wo kommst du her und wo willst du hin?“ Diese Frage geht auch an uns zum Beginn eines neuen Jahres.
Auf der Grafik von Stefanie Bahlinger (rechts) sehen wir Hagar erschöpft auf dem Boden liegen. Zwei Personen dominieren die rechte Bildhälfte im Hintergrund, eine höhere und eine kleinere – vermutlich Abraham und Sara. Nur schemenhaft sind sie gemalt. In warme rotorange Töne getaucht, setzen sie sich deutlich ab von dem zarten Grün und Blau der linken Bildhälfte. Viel Wärme hat Hagar bei Sara und Abraham nicht erfahren; vielleicht meint das Rot-Orange den mal schwelenden und mal eskalierenden Streit zwischen Sara und Hagar?
Viel kleiner, fast unscheinbar wirkt dagegen die blaue Gestalt, die sich Hagar zuwendet. Zeigt ihr der Engel einen Weg aus dem Dilemma? Bedeuten die Grün- und Blautöne, dass neuer Lebensmut und Hoffnung in ihr wachsen?
Doch der Engel schickt sie erst einmal zurück. Das ist die einzige Chance, dass ihr Kind als legitimer Sohn Abrahams anerkannt werden kann. Insofern wir uns in der Nachfolge des Volkes Gottes sehen, bedeutet dies ganz klar, dass Ismael der Erstgeborene Abrahams ist! Ja, es ist wichtig, dass Ismael im Haus Abrahams geboren wird. Es macht die Araberinnen und Araber zu unseren Cousins und Cousinen. Das sollten wir nicht vergessen!
Hagar ist nicht nur die erste Frau in der Bibel, die Gott durch seinen Boten persönlich anspricht, sondern auch die erste, die eine umfassende Segensverheißung erhält: „Und der Engel des HERRN sprach zu ihr: Ich will deine Nachkommen so mehren, dass sie der großen Menge wegen nicht gezählt werden können. Weiter sprach der Engel des HERRN zu ihr: Siehe, du bist schwanger geworden und wirst einen Sohn gebären, dessen Namen sollst du Ismael nennen; denn der HERR hat dein Elend erhört“ (Gen 16,10.11). Ismael bedeutet: „Gott hört“. Gott sieht auf das Elend der Entrechteten und Entmachteten und nimmt sich ihrer an.
Noch ist Hagar in der Wüste und weiß, dass sie wieder umkehren muss. Zwischen ihr und den beiden Figuren im Hintergrund dominiert die Farbe Violett, die auch für Verwandlung stehen kann. Sie beginnt bei Hagar. In der Begegnung mit dem Boten Gottes erfährt sie Gott selbst und kommt zu der Erkenntnis: „Du bist ein Gott, der mich sieht“ (Gen 16,13). Das ist für Hagar der Name Gottes und zugleich ihr persönliches Glaubensbekenntnis! Diese Erkenntnis richtet sie auf und verwandelt sie von der Dienerin Saras zur von Gott angesehenen und gesegneten Hagar.
Auch für Sara trifft das längst Versprochene und bisher vergeblich Erhoffte ein: „Und Sara ward schwanger und gebar dem Abraham in seinem Alter einen Sohn.“ Isaak ist sein Name.
Möchte die Künstlerin mit ihrer Farbgebung an Gottes Regenbogen und an seinen unverbrüchlichen Bund mit uns Menschen erinnern? Er ist auch über unser Leben und Gottes Geschichte(n) mit uns gespannt – und zerreißt nicht. Wie ein lichtdurchfluteter Vorhang breiten sich die Farbflächen nach unten hin aus. In der Mitte öffnet er sich.
Sara fürchtet, Ismael werde den kleinen Halbbruder unterdrücken. Daraufhin schickt Abraham Hagar und ihren Sohn weg. Gibt ihr gerade noch einen Schlauch mit Wasser mit, und das war‘s. Hagar macht sich mit ihrem Sohn auf den Weg in eine höchst ungewisse Zukunft. Nach einer Zeit ist sie völlig erschöpft, und Ismael hört nicht auf zu schreien. Hagar ist am Ende und legt ihr Schicksal und das ihres Sohnes in Gottes Hand.
Gott indes hört das Schreien des Kindes und sieht die Erschöpfung und das Leid der Frau. Da hört Hagar, wie Gott ihr eine Zusage macht – ähnlich wie einst Abraham: „Ich werde mit dir gehen – du bist nicht allein! Ich begleite dich und deinen Sohn. Du wirst die Mutter eines großen Volkes werden.“
Die Erkenntnis der Hagar – mitten im Dunkel, Elend und Leid unsere Welt – begleite auch uns im neuen Jahr: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Es gibt Zeiten, in denen ich mich vergeblich nach Gottes spürbarer Nähe und seinem Eingreifen sehne, er aber wie hinter einem Vorhang verborgen bleibt. Dann reißt der Vorhang plötzlich auf und lässt mich - und sei es manchmal auch nur für kurze Zeit - erkennen: Ich bin ihm nicht egal. ER sieht und hört mich. Und ER greift ein.
Ihre Pfarrerin Lieve Van den Ameele